Tiefe Destabilisierung der BRD

Nach den Wahlen am 26. September 2021 : Tiefe Destabilisierung der BRD

Diese Bundestagswahlen vom 26. September 2021 werden in die Geschichte eingehen als Implosion des politischen Herrschaftssystems der in der BRD nach 1945 konstituierten parlamentarischen Demokratie.

Mit der Umwälzung der Wählerströme erleben wir die Umwälzung des Parteiensystems aller fünf etablierten Parteien. Wer das nur in dem dramatischen Absturz der Union, Hauptpartei der Bourgeoisie seit 1945, erkennen will und in der Halbierung der Linkspartei, bleibt oberflächlich.

Es geht um die gefährliche politische Destabilisierung einer BRD, dem führenden europäischen Imperialismus mit seiner – wenn auch schon zu schrumpfen beginnenden – starken industriellen Basis. Diese Situation wird zugespitzt durch die Schläge des allseitigen ökonomischen, sozialen und politischen Krieges des US-Imperialismus, mit seiner besonderen Wucht gegen den deutschen Imperialismus.

Die “Washington Post” kommentiert: „Eine Phase der Unsicherheit“ beginnt, bei europäischen Regierungen löst das Ergebnis Entsetzen und Panik aus.

Demokratische Wahlen?

60,4 Millionen Wahlberechtigte mit deutscher Staatsbürgerschaft leben in Deutschland. Aber es leben auch ca. 10 Millionen Menschen, großenteils langjährige Mitglieder der Gesellschaft mit Migrationshintergrund, die kein Wahlrecht haben, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Viele von ihnen wollen ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft nicht zu Gunsten einer nur deutschen verlieren. Anderseits wird in Deutschland nur äußerst selten eine doppelte Staatsbürgerschaft akzeptiert. Diese 10 Millionen Einwohner ohne Wahlrecht, aber ohne Recht auf Arbeit und Wohnung, bilden ein neues Subproletariat unter oder neben den unteren Schichten des Billiglohnsektors und Prekariats.

Politische Stabilität mit der Wahl von Scholz?

Der SPD-Kanzlerkandidat Scholz wurde mit dem bisher schlechtesten Ergebnis von ca. 25 % der Wähler zum Kanzler (in spe) gewählt. Auf alle Wahlberechtigten bezogen, heißt das, von 19,5% (!)

Soziale Stabilität?

Im Wahlkampf betonte Scholz seinen Beitrag zur Verteidigung des Sozialstaates – eine zynische Wählertäuschung. Er eröffnete mit Schröder 2003 mit der Agenda-Politik den Generalangriff auf die historischen sozialstaatlichen Errungenschaften und trieb mit der SPD in seinen Jahren in der Großen Koalition die soziale und politische Zerstörung weiter voran. Die Instrumente der sozialen Demontage und der endlosen Deregulierung und Zersetzung der nationalen Flächentarifverträge hinterließen jetzt im Wahljahr 2021 jenes in Europa größte Heer von Niedriglöhnern und Billigjobs, des Prekariats, sowie jenes oben beschriebene Subproletariat. Das hat eine generelle Verarmung der unteren Volksmassen und die Verbreitung der Altersarmut zur Folge, und hat eine enorme soziale Sprengladung aufgehäuft.

Sie ist es, die sich vor allem in diesem Wahljahr 2021 in einer beispiellosen Streikwelle und massiven Demonstrationen ein Ventil schafft.

Wahlkampforgie – eine Orgie des Wählerbetrugs

Wie Scholz haben auch die beiden anderen Kanzlerkandidaten, Laschet (Union) und Baerbock (Grüne), kein Wort über die katastrophale soziale Situation größerer Schichten der arbeitenden Bevölkerung und Jugend verloren. Kein Wort zu den explodierenden Preisen (inclusive Mieten), zur auflodernden Inflation, die der erwerbstätigen Bevölkerung die Kaufkraft wegfrisst, zur Entwicklung der Produktionskrise mit beginnenden Entlassungen und Betriebsschließungen, z.B. in der Autoindustrie.

Diese schlimme soziale Realität haben sie mit leeren Phrasen und trügerischen Versprechungen zum „Klimaschutz“ und über „Digitalisierung – Modernisierung“ zugedeckt. Zu sozialen Fragen kamen, wenn überhaupt, nur vage Äußerungen. Das ist eine beispiellose Orgie des Wählerbetrugs.

Die aktuellen harten Streiks und kämpferischen Demonstrationen zeugen von der tief wurzelnden Empörung der arbeitenden Massen und Jugend. Und doch ist das nur ein Vorspiel für den größeren Widerstand, den eine Fortsetzung und Verschlimmerung jener jahrelangen sozialen und politischen Zerstörungspolitik durch die höchst wahrscheinliche Regierungskoalition von SPD, Grüne, FDP unter Scholz provozieren muss.

Absturz der Union

Die Union erhält 24,1% der Stimmen und verliert 8,9 Prozentpunkte und 3,7 Millionen Stimmen gegenüber 2017. Das ist das schlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte

Die Christliche Union von CDU /CSU ist nicht nur die Hauptpartei der deutschen Bourgeoisie seit der Nachkriegszeit, sie ist zugleich die dominierende Staatspartei. Mit kurzen Ausfallzeiten war sie auch stets, in unterschiedlichen Formen, Regierungspartei als Führungspartei im Bund wie in vielen Ländern.

Ihre Vielzahl an Abgeordneten leben von üppigen staatlichen Diäten und noch üppigeren Lobby-Nebenverdiensten (s. Soziale Politik & Demokratie“, Nr. 456). Ihr Heer von Beamten in der Ministerialbürokratie toppt noch diese Einnahmen. Schon der Niedergang der Union in den Umfragen vor der Wahl löste bei diesem Personal Panik aus. Der jetzige Absturz der Staatspartei treibt viele von ihnen auf die Suche nach einem „weichen Fall“.

Die finanzielle Schrumpfung trifft ebenfalls den Parteiapparat. Der befindet sich in einem gnadenlosen Zerreißprozess, vereint nur in der Rache an Laschet, den sie für das Wahldebakel verantwortlich machen – im Konflikt jedoch im Kampf um politische Machtpositionen und deren Zugang zu aller Art oben genannter Nebenverdienste!

Die sich noch immer aufblasende Luftnummer Laschet versucht der Partei weiterhin die Regierungsführung in einer Koalition mit Grünen und FDP vorzugaukeln, welche sich nur achselzuckend von dem Wahlverlierer abwenden.

Die Union steht zum ersten Mal seit Jahrzehnten vor der Situation, dass sie mit größter Wahrscheinlichkeit keinen Platz in einer Regierungsformation finden wird.

Mit ihrem jetzigen Absturz und dem fortgesetzten Zerstörungsprozess der SPD (auf den Aufschwung von Scholz kommen wir später zu sprechen) erleben wir die Erschütterung der beiden Hauptpfeiler der parlamentarischen Demokratie der BRD nach 1945.

Das sind die radikal veränderten neuen politischen Bedingungen für die Herausbildung einer neuen Regierung.

SPD – keine „Wiederauferstehung“

Mit 25,7% wächst die SPD um 5,2 Prozentpunkte, das sind 2,5 Millionen Stimmen. Neben den fast 2 Millionen ehemaligen CDU-Wählern gewinnt die SPD 800.000 von den Wählern der Linkspartei.

Der propagierte „Aufschwung mit Scholz“, sein Erfolg, die größte Stimmenzahl der drei Kanzlerkandidaten erhalten zu haben, wurde von den Medien mit der Frage begleitet, ob darin eine „Wiederauferstehung der SPD“ zu sehen sei. Eine Frage, die sie selbst negativ beantworten mussten.

Den Stimmenaufschwung verdankt Scholz im Wesentlichen den 2 Millionen bisherigen CDU-Wählern. Dann den 1,2 Millionen ehemaligen Nichtwählern aus Protest gegen die etablierten Parteien, die jetzt für Scholz stimmten, um einen Sieg der CDU zu verhindern. Aus dem gleichen Grunde stimmten schließlich 800.000 Wähler der Linkspartei für Scholz. Das erklärt die eher nüchtern zurückhaltende Stimmung der SPD-Wahlkämpfer bei der Verkündigung der Wahlergebnisse.

Für die SPD-Mitglieder und noch mehr für die Arbeiterwähler war Scholz nicht ihr Kandidat. Er wurde ihnen vom Parteiapparat aufgezwungen.

Alle drei Kanzlerkandidaten, also auch Scholz, vertreten in ihrer Wahlkampfpropaganda nicht die konkreten Interessen von Wählerschichten. Scholz vermied selbst die traditionelle Berufung der SPD auf die politische Interessensvertretung der Arbeiterschaft.

Im Bewusstsein der Arbeiterklasse, und besonders ihrer prekarisierten Schichten, ist Scholz vielmehr der Vorreiter – zu Beginn mit Schröder – für die Zerstörungsangriffe auf die gesamten Arbeitererrungenschaften des Sozialstaates. Wenn trotzdem von diesen Arbeiterwählern eine Mehrheit der Stimmen zu Scholz floss, geschah das in dem unbedingten Willen, die Union niedrig zu halten, die mit der Merkel-Regierung für sie hauptverantwortlich für die fortgesetzte Zerstörungspolitik war, während sie in den bisherigen Wahlen die SPD dafür abstraften.

Die Arbeiterstimmen für Scholz bringen keinen Aufschwung einer SPD, die sich auf die politische Interessensvertretung der Arbeiterschaft beruft. Dieser Scholz, der im Namen der SPD die arbeiterfeindliche Agenda-Politik und deren Fortsetzung in der Großen Koalition praktiziert hat, hat die SPD bis heute einem Verfallsprozess ausgeliefert. Und das wird er als wahrscheinlicher Kanzler einer neuen Regierung mit der Fortsetzung dieser Politik weiterhin tun.

Die Grünen

Die Grünen legen mit 14,8% um 5,6 Prozentpunkte zu, landen aber noch hinter der Union abgeschlagen auf Platz drei der Parteien.

Das entspricht nicht ihrer Erwartung, stärkste Partei zu werden und das Kanzleramt zu erobern. Ihr Wähleraufschwung wird von der Illusion, besonders der Jugend, in eine „andere“ Politik durch die Grünen getragen. Aber schon gebremst durch den von ihnen beschlossenen Klima-Pakt mit Industrie und Wirtschaft, und weil sie in den Landesregierungen und Kommunen die gleiche soziale Abbau-Politik praktizieren, wie sie von allen anderen Parteien auch umgesetzt wird.

Die Illusionsblase für die Grünen wird spätestens mit ihrer Beteiligung an der neuen Regierung platzen, in der sie besondere Verantwortung mit ihrem wahrscheinlichen Vizekanzler Habeck auf sich laden.

Dunkle Schatten aus dem Osten

Die SPD legt im Osten mit 24,2% um 10 Prozentpunkte zu und wird stärkste Partei.

Die Union verliert mit 17,2% über 10,5 Prozentpunkte (also mehr als im Westen) und erhält den dritten Platz, noch hinter der AfD.

Die AfD erreicht 19,8%, d.h. minus 1,4 Prozentpunkte. Sie wird stärkste Partei in den östlichen Kernländern Sachsen und Thüringen.

Aus den höheren Proteststimmen für die AfD spricht die generelle stärkere Ablehnung, das Misstrauen gegenüber den fünf etablierten Westparteien. Sie alle waren verantwortlich für die durch die Kohl-Regierung betriebene Politik der Entindustrialisierung, Privatisierung/Liquidierung von Betrieben, Landwirtschaft u.a. und der Demontage der damit verbundenen sozialen Errungenschaften, der Massenarbeitslosigkeit, der radikalen Deregulierung der Arbeitsverhältnisse. Noch heute liegen die Löhne über 25% hinter denen im Westen zurück, die Bewohner in den östlichen Ländern – ein Volk zweiter Klasse, mit niedrigerer Rente und verarmten Kommunen und Regionen.

Ihre Ablehnung trifft jetzt auch verstärkt die Linkspartei, die hier noch höhere Verluste hatte als im Westen.

Über 1 Million Berliner fordern die Enteignung der großen Wohnungskonzerne

Der Kampf für die Enteignung der Immobilienspekulanten hat mit dem Ergebnis der Volksabstimmung in Berlin mit den über 1 Millionen Ja-Stimmen (das sind 56,4%) ein besonderes Signal an diesem Wahltag gesetzt, ein neues Signal, das dazu beiträgt, eine neue Situation in Deutschland zu eröffnen.

Alle Vertreter des kapitalistischen Privateigentums behaupten, das Grundgesetz gebiete die Entschädigung, was für die Berliner Landesregierung den Bankrott bedeuten würde. Tatsache ist, dass nach GG Art.14, Abs. 3 eine Entschädigung der „Abwägung der Interessen der Allgemeinheit“ untergeordnet ist.

Die Landesregierung versteckt sich stets hinter jenem verlogenen Argument, um der Enteignungsforderung des Volkes die Gesetzeskraft zu verweigern.

Die neu gewählte Regierende Bürgermeisterin der SPD, Franziska Giffey, die sich im Wahlkampf kategorisch gegen jede Enteignung positioniert hat, will einem entsprechenden Gesetz ausweichen und sucht den Handschlag mit den Immobilienspekulanten.

Eine neue Situation öffnet sich

Die Niederlag der Linkspartei öffnet Scholz den Weg zu der von ihm schon immer bevorzugten Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP. „Ein Wahlergebnis von Maß und Mitte. Damit können die Finanzmärkte gut leben“, kommentiert der Vertreter der DEKA-Bank.

Die gemeinsame Regierung mit den Grünen und der FDP erleichtert es Scholz, z.B. die horrenden Kosten für den angeblichen Klimaschutz, sowie die hohe Verschuldung im Namen der Pandemie durch eine noch brutalere Sparpolitik auf die Bevölkerung abzuwälzen.

Die Produktionskrise verlangt z.B. den Abbau allein in der Autoindustrie von 178.000 Arbeitsplätzen. (ifo-Institut)

Gleichzeitig muss die weltweite „Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“ – der Profite und Rendite der Konzerne und Finanzinvestoren und der Banken – gefördert werden. Dafür soll z.B. das 500 Mrd.-Programm unter dem Namen der Modernisierung, Klimaschutz und Digitalisierung sorgen.

Aber wir leben in einer neuen Situation. Und in der werden die Widerstandskämpfe der Arbeiterklasse und der Jugend nicht fehlen.

Im Gegenteil. Schon jetzt wird das Land mit einer Welle von Streiks und Demonstrationen überzogen. Von Streiks neuer Härte, in denen das jahrzehntelange Streikverbot mit Forderungen wie „mehr Personal“, „Verteidigung und Rückeroberung von Flächentarifverträgen“, von Streiks gegen Entlassungen, durchbrochen wird.

Von massiven spontanen Demonstrationen – außerhalb des Rahmens der Gewerkschaften – gegen soziale Ungerechtigkeit und Prekarisierung, sowie gegen die Mietpreisexplosion.

Mit diesen Demos verteidigt Fridays for Future seine Unabhängigkeit von den Grünen, deren Klimapakt mit der Industrie sie heftig kritisiert.

Doch die aktuellen Streiks und Demonstrationen gegen die Auswirkungen der Regierungspolitik bleiben zersplittert. Es fehlt ihre politische Zentralisierung gegen die Regierung und deren Politik.

Auf solche, durch die neue Regierung noch stärker provozierte Widerstandskämpfe, wird man sich stützen können, um die politische Perspektive zu eröffnen: die Zentralisierung des Kampfes gegen die fortgesetzte soziale und politische Zerstörungspolitik der wahrscheinlichen neuen Regierung unter Kanzler Scholz (SPD) und des Vizekanzlers Habeck (Grüne).

Um endlich Schluss zu machen mit der Zerstörungspolitik, muss Schluss gemacht werden mit der neuen Regierung, die diese Politik weiter verfolgt. Für einen konsequenten politischen Kurswechsel, für eine Politik und Regierung der Rettung und Wiederherstellung der historischen Errungenschaften des Sozialstaates.

Auf dieser Grundlage versammeln sich die gewerkschaftlichen und politischen Kämpfer der Arbeiterbewegung in den politischen Arbeitskreisen in Verbindung mit der „Sozialen Politik & Demokratie“.

Werner Uhde, 6. Oktober 2021

 

 

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