Wie „Flagge zeigen für den Kurswechsel zur sozialen Gerechtigkeit“?

Nach der Wahl im Saarland überstürzten sich die Medien-Kommentare mit Prognosen wie: „der „Schulz-Zug“ schon wieder ausgebremst“ oder „Schulz-Effekt gestoppt.“

Für diese Demontage von Schulz wird wegretuschiert, dass im Saarland nicht er zur Wahl stand, sondern für die CDU Annegret Kramp-Karrenbauer, bisherige Ministerpräsidentin der Großen Koalition, und für die SPD die stellvertretende Ministerpräsidentin, Anke Rehlinger. Keine der beiden Kandidatinnen und deren Regierungsparteien standen für den Bruch mit der Agenda-Politik.

Im Saarland mobilisierten sich seit Januar die KollegInnen gegen die katastrophale Situation in den Krankenhäusern, wo 3350 Stellen nach Aussage von ver.di fehlen.  Sie demonstrierten auf Streikversammlungen und Streikdelegiertenkonferenzen ihre große Kampfbereitschaft. Unter diesem Druck drohte die ver.di-Führung wiederholt mit Warnstreiks, die sie aber im Rahmen von Verhandlungen mit der Großen Koalitions-Regierung und wegen der Gefahr des  Streikverbots durch Arbeitsrichter immer wieder absagte.

Die massive Mobilisierung in den Krankenhäusern für mehr Stellen – und zweifellos auch in der Bevölkerung – hat die gesamte Wahlkampfzeit stark bestimmt. Die CDU nutzte das, um sich mit Versprechungen von „Korrekturen“ der schlimmsten Auswirkungen (neue Stellen für die nächsten Jahre ab 2018!) im Falle ihrer Wahl in die neue Regierung zu profilieren.

Für diese vagen Versprechungen gab sich die ver.di-Führung dazu her, der CDU offene Wahlkampfhilfe zu leisten. Sie gab der CDU-Ministerpräsidentin und ihrer Gesundheitsministerin (CDU), die die Verantwortung für die jahrelange finanzielle Ruinierung der Krankenhäuser tragen, die Gelegenheit, sich in Einheit mit ver.di an der Spitze der Großdemonstration am 8. März als Vorkämpferin für neue Stellen per Gesetz … zu präsentieren – ein Affront gegenüber den 4500 KollegInnen, die sich auf dieser Demo für ihre Forderung nach einem Tarifvertrag für mehr Personal sofort versammelt hatten.

Adressiert an den Kanzlerkandidaten der SPD Martin Schulz betont der Vorsitzende von ver.di, Frank Bsirske: „Wir brauchen einen Kurswechsel zur sozialen Gerechtigkeit“. Denn die Agenda 2010 sei „ein System für sozialen Absturz geworden“.

Doch je mehr sich Martin Schulz im Rahmen der Politik der Großen Koalition definiert, desto mehr verblasst sein Profil als Repräsentant eines wirklichen Politikwechsels, mit dem sich die Chance eröffnen könnte, Merkel und ihr „Weiter so“ mit der Agenda-Politik zu schlagen. Treu seiner Versicherung folgend, dass die SPD auch unter seinem Vorsitz den Koalitionsvertrag mit der Union einhalten werde, verweigert er es, sich an die Spitze des massiven Widerstands der Bevölkerungsmehrheit, Gewerkschaften und von SPD-Mitgliedern zu stellen, um die geplante neue Privatisierungsorgie gegen die öffentliche Daseinsvorsorge zu verhindern. Mit über 14 Grundgesetzänderungen will die Große Koalition noch Ende Mai einen „schleichenden Umbau des Sozialstaates“ organisieren (DGB), d.h. über die Privatisierung den renditehungrigen Finanzspekulanten große Bereiche der öffentlichen und sozialen Infrastruktur ausliefern.

Dafür hat Schulz die Maut, die eine zwingende Voraussetzung für die Infrastrukturgesellschaft ist, widerspruchslos im Bundestag und -rat passieren lassen, während er den über 30.000 SozialdemokratInnen, die in einem Brief an die SPD-Abgeordneten gefordert haben, den Grundgesetzänderungen und damit der Privatisierungswelle nicht zuzustimmen, keine Antwort gegeben hat.

Mit seinen neuesten Avancen gegenüber der FDP – im Schulterschluss mit Gabriel – wird die von ihm postulierte Gegnerschaft zur Agenda-Politik keineswegs glaubwürdiger.

Auch der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, bemüht sich unterdessen nach Kräften, dass seine rot-rot-grüne Koalition sich nicht als Stützpunkt für eine Regierungskoalition im Bund empfiehlt, die wirklich Schluss macht mit den sozialen Zerstörungen durch Schuldenbremse und Deregulierung.

Der Offene Brief, mit dem sich GewerkschaftskollegInnen und SozialdemokratInnen aus Berlin an M. Schulz und M. Müller gewandt hatten, damit sie „erste konkrete Schritte“ unternehmen um der „Verrottung der Arbeitsverhältnisse und der Verwahrlosung der öffentlichen Daseinsvorsorge Einhalt zu gebieten“, blieb unbeantwortet. Dagegen ließ der rot-rot-grüne Senat als der verantwortliche Arbeitgeber es zu, dass der Streik für die Rückführung der Vivantes-Tochter VSG in die Mutter (beide gehören zu 100% dem Land Berlin) durch eine einstweilige gerichtliche Verfügung verboten wurde. (s. S. 5-6)

Der ver.di-Vorsitzende Bsirske forderte auf dem letzten Gewerkschaftsrat dazu auf, Martin Schulz mit seiner Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu ermutigen: „Es gibt gute Gründe gegen die Agenda 2010 und für soziale Gerechtigkeit einzutreten.“ Doch er betonte „mit Blick auf die anstehenden Landtags- und Bundestagswahlen: dafür muss Flagge gezeigt werden, im Betrieb ebenso wie öffentlich… und dazu braucht es starke Gewerkschaften.“ *  Denn „von allein gibt es keine Entlastung des Pflegepersonals in den Krankenhäusern… Von allein gibt es keinen Halt bei der Privatisierung öffentlicher Infrastruktur bis hin zu unseren Autobahnen.“

Im Rahmen des vorentscheidenden Wahlkampfes in NRW verstärkt ver.di die Aktivitäten im Kampf für Tarifverhandlungen für mehr Personal zur Entlastung der KollegInnen. Die ver.di-Konferenz aller Krankenhäuser von NRW am 29. April 2017 „Klinikpersonal entlasten“ will darüber diskutieren, die Arbeitgeber zu „Tarifverhandlungen zur Entlastung“ aufzufordern. In dieser Situation hat die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA, Düsseldorf in einem Antrag gefordert, dass die SPD-geführte Landesregierung unter Hannelore Kraft „für die zusätzliche Finanzierung der fehlenden 35.000 Stellen (in NRW) an den Krankenhäusern“ sorgen soll und mit der Gewerkschaft ver.di dazu „umgehend Verhandlungen zu einem Tarifvertrag Entlastung für die Krankenhäuser in ihrem Verantwortungsbereich“ aufnimmt.

Die Krankenhausbeschäftigten wissen aus Erfahrung – gerade auch aus der Erfahrung im Saarland – das nur ihr gewerkschaftlich organisierter Kampf die Arbeitgeber und Landesregierung zu solchen Verhandlungen bewegen kann. Eine entsprechende Mobilisierung der KollegInnen, unterstützt von der breiten Bevölkerung und von Martin Schulz, würde nicht nur den Griff einer Merkel-CDU nach der Regierungsmacht in NRW zu vereiteln helfen, sondern auch Martin Schulz größere Möglichkeiten bieten, in den Bundestagswahlen Merkel und ihr „Weiter so“ mit der Agenda 2010 zurückzuschlagen.

Carla Boulboullé

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*Hier müsste man hinzufügen: die nur stark sein können, wenn sie sich nicht länger ihr vom Grundgesetz garantiertes umfassendes Grundrecht auf Streik von Arbeitsgerichten im Interesse der Unternehmer und Regierenden nehmen lassen. (s. Seite 5 f)

 

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