Eine politische Kapitulation

Sigmar Gabriel sieht sich nicht in der Lage, noch einmal als Spitzenkandidat der SPD zu den Bundestagswahlen anzutreten und verkündet gleichzeitig seinen Rücktritt als Parteivorsitzender.

Das ist die politische Kapitulation – vor der immer massiveren Ablehnung der SPD-Politik in der Großen Koalition.

Die Kapitulation des Mannes, der nach der Abwahl von Merkels schwarz-gelber Koalition die SPD im Namen trügerischer Korrekturen an der von Schröder eingeführten Politik der Agenda 2010 zum Eintritt in die Große Koalition zwang, um es der Regierung unter Kanzlerin Merkel zu ermöglichen, diese Politik unter dem verschärften Diktat der Schuldenbremse und der Deregulierung fortzusetzen.

Für diese Politik der Ruinierung des Sozialstaates und seiner Institutionen, der gesetzlichen Rente, öffentlichen Bildung, Krankenhaus- und Gesundheitswesen und der kommunalen Daseinsvorsorge, sowie der „Verrottung der Beschäftigungsverhältnisse“ (M. Kniesburges, ver.di. s. S. 7) haben die Parteien der Großen Koalition, vor allem aber die SPD, in allen Wahlen einen hohen Preis gezahlt.

Mit dem Niedergang auf bis zu 10-13% in einigen Bundesländern und zuletzt mit dem Absturz in Berlin – trotz aller sozialen Korrekturversprechungen – steckt die SPD in einer Existenzkrise. Weder die Unionsparteien mit Merkel noch die SPD haben die realistische Aussicht auf Bildung einer Regierung unter ihrer Führung. Eine erneute Koalitionsregierung aber ist für beide ein unkalkulierbares politisches Wagnis.

Da geht Gabriel her und verordnet der SPD, der über 150 Jahre alten historischen Arbeiterpartei, die von der heutigen Führung mit einer „arbeitnehmerfeindlichen Politik“ in den Selbstzerstörungsprozess getrieben wird, mit Martin Schulz einen Kanzlerkandidaten und sofort auch Parteivorsitzenden ohne jede Diskussion in der Partei und erst recht mit der traditionellen Arbeiterwählerbasis der SPD, die so dramatisch weggebrochen ist.

Warum Martin Schulz?

Schulz ist ein ausgemachter Verfechter von Schröders Agenda-2010-Politik, in der er ein „Vorbild“ für die Länder Europas sieht. Er erklärt denn auch konsequent, dass die SPD in der Großen Koalition für den Rest dieser Legislaturperiode „bis zum letzten Tag den Koalitionsvertrag erfüllen“ werde, einen Vertrag, in den die beiden Grundprinzipien der Koalition unverrückbar eingeschrieben sind:  die Erfüllung der Schuldenbremse und die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Rendite. Denselben Kurs vertrat Schulz als Präsident des EU – „Parlaments“ mit der Politik der Euro- bzw. Bankenrettung und den damit verbundenen Kürzungs- und Privatisierungsdiktaten, dem Zwang zur Deregulierung und Ausweitung der Niedriglohnsektoren, wie z.B. gegen Griechenland.

Weil er aber durch ein Handeln auf der politischen Bühne in Deutschland nicht direkt vorbelastet ist, hoffen Gabriel und die Parteiführung, dass es Schulz eher gelingen kann, mit Reden von „sozialer Gerechtigkeit“ zu punkten, d.h. die Ablehnung der Wählerbasis der SPD einzudämmen.

Auch für die geheime Notlösung einer erneuten Großen Koalition wäre Schulz der geeignete Mann, der in dem Pseudo-Parlament der EU jahrelang die Große Koalition von Sozialdemokraten und der konservativ-christdemokratischen EVP angeführt hat.

Martin Schulz fordert jetzt im Wahlkampf, in Übereinstimmung mit Gabriel, trügerische „Kurskorrekturen“ ein. Doch die ArbeitnehmerInnen haben ihre Erfahrungen damit gemacht: zuletzt mit der Renten„reform“, die weiterhin Hunderttausende zur Altersarmut verurteilt, beim Gesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen, das Lohndumping und moderne Sklavenarbeit noch fördert.

„Hände weg vom Arbeitszeitgesetz“, warnt ver.di die Arbeitsministerien Nahles (SPD), die in Übereinstimmung mit der DGB-Spitze und Arbeitgebern im Namen von „mehr Zeitsouveränität“ für die Arbeitnehmer, die historische Errungenschaft des 8-Stunden-Tag aushebeln will.

Schulz stellt mit keinem Wort derartige „Reformen“ in Frage, die die Große Koalition noch vor der Wahl durchpeitschen will. Das gilt auch für die „Reform“ des Länderfinanzausgleichs, durch die die ohnehin schon in den Ruin getriebenen Kommunen noch stringenter der Knute der Schuldenbremse unterworfen und weiterer Verarmung ausgeliefert werden. (s. Artikel auf S. 9)

Der DGB-Vorsitzende Hoffmann verlangt heute vor den Wahlen -  erneut im Einklang mit Gabriel (!) – mehr „soziale Gerechtigkeit“, eine „anständige Rente“, eine „starke Tarifbindung“ und ein „Reform“konzept für die 7,4 Mio. Minijobber. Mit diesen im Vagen bleibenden Korrekturforderungen, formuliert als Regierungsauftrag an die SPD-Spitze, vermeidet Hoffmann einen wirklichen Bruch mit der Sparpolitik unter dem Gebot der Schuldenbremse, hofft aber gleichzeitig, Ventile für die Wut der breiten Bevölkerungsmehrheit öffnen zu können. Das erinnert daran, dass es derselbe Hoffmann war, der mit seiner damaligen Unterstützung der Versprechen von „Kurskorrekturen“ der SPD-Führung bei dem Weg in die Große Koalition geholfen hat.

Doch die Mehrheit der Bevölkerung hat genug von den trügerischen „Reformen“. Sie wollen, dass Schluss ist mit der Agenda-Politik! „Die stetige Ausweitung des Niedriglohnsektors und der sogenannten prekären Arbeitsverhältnisse programmiert Altersarmut in Ausmaßen, wie sie sich viele (…) noch gar nicht ausmalen können“, schreibt Maria Kniesburges in ver.di publik.

Und diese „gewollte Verrottung der Arbeitsverhältnisse (…) muss abgeschafft werden. Nicht eingedämmt, sie muss abgeschafft werden.“! Und sie setzt dabei keinerlei Hoffnung auf die Regierung, die „mit anderem befasst ist“, nämlich mit der Verschärfung der Rechtlosigkeit der Menschen, die zu Hartz-IV verurteilt sind. (s. S. 7).

Während die SPD-Führung und ihr Spitzenkandidat Schulz, begleitet vom DGB-Chef Hoffmann, alles tun, um mit den Versprechungen eines „politischen Wechsels“ und von „sozialen Korrekturen“ abzulenken von der Politik des „Weiter so“ mit einer noch schlimmeren Agenda-Politik, ganz im Sinne von Merkel.

-  verstärkt sich der Widerstand der Arbeiterschaft und Jugend und konzentriert sich auf die Rückeroberung der verlorenen sozialstaatlichen Errungenschaften. Trotz der „Fassaden-Korrekturen“ kämpfen sie gegen die Tarifflucht für die Wiederherstellung ihrer Flächentarifverträge, für die „Abschaffung“ jeder prekären Arbeit, gegen die Kaputtsparpolitik „für mehr Personal“ und die Milliarden zur seiner Finanzierung – wie jetzt die 4000 Beschäftigten im Warnstreik des öffentlichen Dienstes in Berlin. (s. S. 5-7)

Carla Boulboullé

 

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